Der Kanton Luzern im 20. Jahrhundert

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Titel
Kantonsgeschichte des 20. Jahrhunderts.


Herausgeber
Staatsarchiv des Kantons Luzern
Erschienen
Zürich 2013: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
426 / 316 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Manuela Specker

Drei Eigenheiten kennzeichneten den Kanton Luzern im 20. Jahrhundert im Besonderen: die politischen Grabenkämpfe zwischen Konservativen und Liberalen, der hohe Anteil an Katholiken und der starke agrarische Charakter. Während ab 1888 schweizweit mehr Menschen im industriellen Sektor als in der Landwirtschaft beschäftigt waren, blieb im Kanton Luzern die Landwirtschaft bis 1920 vorherrschend.

Diese Besonderheiten des Kantons Luzern arbeiten die beiden vom Staatsarchiv Luzern herausgegebenen Bände Der Kannton Luzern im 20. Jahrhundert umfassend heraus. Die Beiträge beschreiben und analysieren die Entwicklungen aus unterschiedlichen Perspektiven und betten sie auch in nationale Kontexte ein, ohne den regionalen Fokus oder die regionalen Unterschiedlichkeiten aus den Augen zu verlieren, gerade auch in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung. Ein grosser Gewinn sind zweifellos die reichhaltigen Bebilderungen.

Zu den aufschlussreichsten Beiträgen gehört jener von Raffael Fischer über Schule und Bildung (Band I, 245–281). Am Erziehungssystem lässt sich eben nicht nur die Entwicklung vom armen Agrarkanton zur wohlhabenden Dienstleistungsgesellschaft veranschaulichen, sondern auch der wandelnde Einfluss der Kirche und der damit verbundene Konflikt zwischen Liberalen und Konservativen. In Schulfragen wirkten kulturkämpferische Reflexe noch lange nach (Band I, 248). Schauplatz der weltanschaulichen Auseinandersetzungen war Ende des 19. Jahrhunderts das Lehrerseminar in Hitzkirch, das bis 1972 unter geistlicher Leitung stand. Die Liberalen prangerten um 1900 insbesondere die vielen kirchlichen Pflichten an – das Lehrerseminar war bei ihnen als «klösterliches System» verschrien (247).

Auch (diskriminierende) Praxen fanden im damaligen Bildungssystem ihren Ausdruck. Frauen wurden bis in die 1950er-Jahre lediglich die Unterstufe und reine Mädchenklassen anvertraut. Auch hatten sämtliche Lehrerinnen ledig zu sein – der Preis für ihre verhältnismässig selbstständige Existenz. Wer doch heiratete, musste auf Ende des Schuljahres zurücktreten. Eine Regel, die bis 1957 Bestand hatte.

In die Kantonsschule schafften es in erster Linie Söhne aus gutsituierten Familien der Stadt. Begabte Schüler, die auf dem Land wohnten, hatten allenfalls Zugang zur Priesterlaufbahn. Fragwürdig ist vor diesem Hintergrund, dass in den beiden Bänden zur Kantonsgeschichte die Vorstellung vom «bildungsfeindlichen Katholizismus» aufrecht erhalten wird, obwohl die Gründe für den Bildungsmangel vielschichtiger sind, wie einzelne Beiträge ja auch antönen: die erforderliche Mithilfe auf Bauernbetrieben, die geografische Lage mit ihren schwierigen Schulwegen auf der Landschaft oder die sozioökonomische Herkunft, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Bildung, wie Raffael Fischer korrekt festhält, bewirkt immer auch die Aufrechterhaltung von Herrschaftsverhältnissen und sozialen Ungleichheiten (254).

Mit solchen Beiträgen wird das zweibändige Werk dem in der Einleitung formulierten Anspruch gerecht, dass die Kantonsgeschichte Luzern den Kanton nicht alleine als Staatsgebilde versteht – eine allerdings mittlerweile selbstverständliche Ansicht in den Geschichtswissenschaften. Vielschichtige Begriffe wie «Gesellschaft» und «Alltag» werden in separaten Kapiteln abgehandelt, was einer zu starken politikgeschichtlichen Orientierung ebenfalls entgegen wirkt. Trotzdem stellt sich die Frage, warum die thematischen Schwerpunkte nicht mehr verzahnt werden, denn es besteht die Tendenz, «Gesellschaft» und «Alltag» zu sehr auf das Vereinsleben oder Bräuche wie die Fasnacht zu reduzieren. Streckenweise erwecken die Bände den Eindruck, Pflichtstoff abzuhandeln, auch weil Struktur und Erzählweise einzelner Beiträge geprägt sind vom Streben nach Vollständigkeit. Dabei wäre oft gerade in der vermeintlich «kleinen» Geschichte mehr über grössere Zusammenhänge zu erfahren. In diesem Sinne wären mehr eigene Akzente wünschenswert.

Dass beispielsweise die Stadt Luzern im Modernisierungsprozess den Takt angab, ist zwar nicht falsch, doch verkennt diese altbekannte Sichtweise, wie ländliche Regionen mit den Veränderungen zurecht kamen und wie sie ihren ganz eigenen Beitrag zur Modernisierung leisteten. Die Moderne hat sich nicht einfach «verankert» (Band II, 115), sie war vielmehr ein Prozess, der von oben wie von unten angestossen wurde. Gerade eine Kantonsgeschichte bietet die Chance, mehr auf die Vorstellungswelten ihrer Einwohnerinnen und Einwohner einzugehen, anstatt das Bild von den fortschrittlichen Stadt- und den rückständigen Landbewohnern zu zementieren.

Dafür hat es das zweibändige Werk geschafft, den epochalen Wandel, der die ganze Schweiz erfasste, in einer Überblicksdarstellung erstmals für den Kanton Luzern mit allen seinen Eigenheiten greifbar zu machen. Positiv hervorzuheben ist auch die immer wieder leise geäusserte Kritik an der herrschenden Wachstumseuphorie. Gemeinden wie Meggen beispielsweise zonten auf der Basis übertriebener Wachstumsprognosen grosszügig Bauland ein (Band I, 132), um gut situierte Steuerzahler anzuziehen. Auf der Strecke blieben der Landschaftsschutz sowie die Artenvielfalt in Flora und Fauna. Der Kanton Luzern kann immerhin für sich in Anspruch nehmen, im Gewässerschutz eine Pionierrolle gespielt zu haben (Band I, 142) – ein Engagement, das wiederum nicht losgelöst von der starken agrarischen Prägung des Kantons Luzern betrachtet werden kann.

Zitierweise:
Manuela Specker: Rezension zu: Staatsarchiv des Kantons Luzern (Hg.), Der Kanton Luzern im 20. Jahrhundert, Band 1 und 2, Zürich, Chronos Verlag, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 108, 2014, S. 558-560.